Enterprise 2.0 und die Kuh im Propeller

Frank Wolf —  1. September 2009 — 12 Comments

Genosse Grigori Kossonossow, der Wächter der Fliegerschule, fährt auf Urlaub in sein Heimatdorf und will dort den Bauern das Flugwesen erklären – mit sehr zweifelhaftem Erfolg 🙂
Die Kuh im Propeller (Michail Sostschenko) (4:32)

Könnte es sein, dass wir beim Thema Enterprise 2.0 gerade ähnlich vorgehen? Der Kern unserer „2.0 Revolution“ sind begeisternd einfache und effektive Tools zur Zusammenarbeit und Kommunikation. Diesen Kern nimmt man leider kaum noch wahr, ob des konzeptionellen Ballasts, den wir in all unserer Euphorie darüber gestülpt haben. 3 Beispiele:

1. Die Auflösung der Hierarchien

Die Anzahl der Artikel, die ein Verschwinden der Hierarchien im Enterprise 2.0 prophezeien sind ungezählt. Was für einige (kleine) Unternehmen der technologischen Avantgarde vielleicht noch verlockend klingt, ist für jede mittelständische Geschäftsführung ein glatte Horrorvision. Die Offenheit des Web 2.0 schafft mehr Transparenz und Sichtbarkeit, unabhängig von der Einordnung in eine organisatorische Struktur. Dadurch entfällt sicherlich teilweise das alte Führungsprivileg der Informationshoheit, doch sind nicht auch Faktoren wie widersprüchliche Meinungen, menschliches Machtstreben und unterschiedliche individuelle Arbeitsstile Begründung für die Existenz von Hierarchien – gerade in großen Unternehmen? Selbstorganisation ist die höchste Form der Abstimmung – nur wenige wollen und werden diesen Grad der Vollendung erreichen.

Auch schon bei früheren technologischen Entwicklungen wurde deren Auswirkung auf die Struktur eines Unternehmens weit überschätzt (siehe zum Beispiel hier).  Wer heute vernetzt arbeitet, der tut das aus der Überzeugung seine Arbeitsergebnisse zu verbessern, und nicht, weil eine Technologie ihn dazu getrieben hat. Wenn aus der Nutzung neuer Informationstools ein Wegbrechen der Hierarchien geschlussfolgert wird, dann wedelt hier der Schwanz mit der Kuh.

2. Die Kulturrevolution

Ohne Frage stellen sich kulturell innerhalb einer Organisation ganz neue Herausforderungen verglichen mit dem offenen Internet. IT Abteilungen waren bislang in erster Linie damit beschäftigt, auf Anforderungen nach Datenschutz, Sicherheit und Compliance zu reagieren und vor allem abzuschotten. Kein Wunder, dass Web 2.0 Anwendungen, deren Grundprinzipien Offenheit und Dynamik sind, hier einige entscheidende Fragen aufwerfen und ein Umdenken erfordern. Die Nutzung von Social Software wird sicherlich nicht spurlos an der Kultur eines Unternehmens vorbeigehen und spannende Denkprozesse auslösen, aber eine Kulturveränderung ist keine Eingangsvorraussetzung für die erfolgreiche Nutzung von Social Software.

Vielleicht sollten wir versuchen von der Kultur als Sammelbegriff wegzukommen, denn darunter liegen Themen, die viel konkreter und damit besser zu adressieren sind: Berechtigungen, Zugriff, Identität, Struktur, Governance,…

3. Die Invasion der Digital Natives

Wir definieren eine neue Gruppe von Überfliegern ausschließlich anhand Ihres Geburtsdatums. Wer mit den neuen Medien aufgewachsen ist und diese scheinbar automatisch mit der Muttermilch verinnerlicht hat, der wird sich traumwandlerisch sicher in der neuen Informations- und Kommunikationskultur bewegen können. Im praktischen Alltag treffen wir jedoch sowohl auf den ignoranten Absolventen einerseits und den extrem aufgeschlossenen Vorrentner andererseits. Man darf bezweifeln, dass das Alter allein dafür verantwortlich ist, wie aufgeschlossen und kompetent in der Mediennutzung wir unserer Umwelt begegnen. Bleibt die Frage nach dem Anspruch der „Digital Natives“ an Ihren Arbeitsplatz. Die Erwartungshaltung junger Mitarbeiter an den zukünftigen Arbeitgeber ist nicht in erster Linie eine Social Software Infrastruktur. Sie erwarten, was jeder gerne will: nette Kollegen, Entwicklungsmöglichkeiten und eine offene Kultur. Social Software trägt dazu einen kleinen Teil bei und ist im besten Fall ein Indiz, dass auch die anderen Punkte gegeben sein könnten.

Die richtigen Botschaften finden

Grigori Kossonossow und Diskussionen zur Sinnhaftigkeit des Flugwesens gehören heute der Geschichte an. Otto Lilienthal hat im Jahr 1891 seinen ersten Gleitflug unternommen und mehr als 30 Jahre später entwickelten sich die ersten kommerziellen Luftfahrtgesellschaften.

Noch einmal: Der Kern unserer „2.0 Revolution“ sind begeisternd einfache und effektive Tools zur Zusammenarbeit und Kommunikation. Deren Einsatz in unterschiedlichen Unternehmensszenarien und deren inhaltliche und technische Integration muss weiter optimiert und konkretisiert werden, um allgemeingültige und akzeptierte Vorteile sicherzustellen.

Es kommt ja nicht so selten vor, dass man einem aufgeschlossenen Gesprächspartner das Thema Enterprise 2.0 erklären soll. Wer das tut, hat sicher eine ganze Liste von Punkten, die dabei wichtig und erwähnenswert sind. Die drei beschriebenen Beispiele sind valide Aspekte, aber eine pauschale Diskussion hilft uns nicht, Enterprise 2.0 greifbarer zu machen.

12 responses zu Enterprise 2.0 und die Kuh im Propeller

  1. Das ist ein schöner Vergleich. „Die Kuh im Propellor“ ist übrigens sehr hörenswert. Danke für den Link, den ich schon lange gesucht habe. Ich denke schon, dass „die Kultur“ in einem Unternehmen reif sein muss, für den erfolgreichen Einsatz von Social Software. Genausowenig, wie es Sinn macht, einfachen Bauern das Flugwesen anzupreisen, macht es Sinn, einem Unternehmen mit einer herkömmlichen „Command & Control“ Kultur, Social Media „zu verkaufen“. Es gilt vielmehr, die bestehende Kultur zu respektieren und mit den Werkzeugen zu beginnen, die besser zum Unternehmen passen. Siehe dazu auch meinen verlinkten Blogbeitrag.

  2. Als „Digital Silver“ (Silber im Haar, Bits in den Knochen) weise ich auf die Thematik des Geburtsdatums hin: Wieso spielt das Geburtsdatum eine Rolle? Selbstverständnis und Kultur sind nicht an ein Geburstdatum gebunden 🙂

    Genau das ist meines Erachtens wirklich der Punkt, der für Erfolg oder Nichterfolg von Enterprise 2.0 oder Social Software im Unternehmen wichtig ist: Die Kultur im Unternehmen. Eine offene Kultur akzeptiert zusätzliche Faktoren wie Erfahrung oder Wissen als nur Hierarchien. Doch sooo neu ist die Problematik nicht: In vielen Unternehmen entscheidet letztendlich immer noch die Führungskraft und nicht der Projektleiter, wie und was im Projekt gearbeitet und erstellt wird. Entscheidend ist die Vernetzung und wie sie „neben“ der Hierarchie akzeptiert wird.

    Früher waren nur die oberen Hierarchien vernetzt (und vor allem extern vernetzt). Heutzutage ist die Vernetzung für alle Stufen möglich und aufgrund der Arbeit oft auch nötig.

  3. Auch wenn der Kern unserer „2.0 Revolution“ begeisternd einfache und effektive Tools sind, so mache ich zunehmend die Erfahrung, dass den meisten Leuten nicht klar ist, was an diesen Tools neu oder anderes ist, insbesondere gegenüber den „bewährten Kommunikationswerkzeugen“ im Unternehmen wie Email und Telefon. Hinzu kommt, dass sich viele Mitarbeiter bereits heute von der Anzahl der zu bedienenden Systeme überfordert fühlen und „ja nicht noch ein System“ wollen, in dem sie Informationen suchen müssen. Auch kommt erschwerend hinzu, dass sich die Art und Weise der täglichen Informationsversorgung eines Managers (und somit Entscheiders) deutlich von der eines normalen Mitarbeiters an der Basis unterscheiden. Ersterer kommt in der Regel gut mit Email und Telefon aus, die ihm neben den Informationen auch die gewünschte Kontrolle bieten, die sie ungern aufgeben möchten. Genau das sind m.E. die Punkte, die explizit im Rahmen der Überzeugungsarbeit adressiert werden sollten

  4. Bei 3. stimme ich voll und ganz zu 😉 Hier wird mitunter sehr naiv und pauschal eine jüngere Generation heroisiert und damit auch mit Erwartungen überfrachtet. Ich habe selbst auch einige aufgeschlossene Vorrentner erleben dürfen – sehr treffend!

    Was das Thema Kultur und Hierarchie (=göttliche Ordnung!) angeht: „Kultur“ wird selten vor dem Hintergrund der vorhandenen Erfahrungen und Forschungen zu Organisationskulturen (seit 40 Jahren!) diskutiert, sondern steht bei zu vielen „Praktikern“ für „Nicht-Technik“.

    Und Struktur – also Hierarchie. Die „bricht“ natürlich nicht übermorgen weg, wenn ich heute die angesprochenen Werkzeuge einführe. Das verkennt völlig die Veränderungsgeschwindigkeiten von Institutionen. Langfristig wird sich aber schon etwas in den Entscheidungswegen ändern müssen, wenn immer weniger industriell produziert wird und immer mehr Mitarbeiter „Wissensarbeit“ verrichten.

  5. Anwender, der 2.0 nutzen will um dabei zu sein aber den Sinn nicht findet. 2. Januar 2011 at 14:24

    „Der Kern unserer „2.0 Revolution“ sind begeisternd einfache und effektive Tools zur Zusammenarbeit und Kommunikation.“

    Der Unterschied zum Agitator in „Die Kuh…“: Dort konnte man eine gute Erfindung dem „ungebildeten“ Volk nicht erklären. Bei 2.0 braucht man im Gegensatz dazu Agitatoren, die ein an sich gebildetes Volk auf das Denken begrenzende und behindernde Anwendungen einschwören.

    Bei 2.0 handelt es sich weitgehend um versimpelte Produkte für Arbeitsvorgänge rund um „Kopieren-und-Einfügen“. Die Einfachheit der Anwendungen ist dringend nötig, da viele nach Jahren des Konsums moderner Fernsehprogramme nicht mehr als 30 Sekunden Aufmerksamkeit aufbringen können und die ständig aufpoppenden interaktiven Störungen als MTV-Ersatz am Arbeitsplatz benötigen. Bereits die heute als antiquiert geltende E-Mail hat diesen Effekt. All das ist wissenchaftlich untersucht und mit vielen Theorien schlüssig begründet.

    Kein 2.0-Programm bringt da eine Verbesserung, was ber auch in vielen Unternehmen gar nicht gefordert ist.

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