Eine Microblogging-Theorie oder warum Robinson Crusoe begeistert getwittert hätte.

Frank Wolf —  7. November 2008 — 6 Comments

“Twitter steht dort, wo die Blogosphäre 2004 war“ sagt Boutin im Wired Magazine. Richtig, zumindestens gemessen am Hype um alles, was dazu gehört: Twitter-Tools, Theorien, Pro’s und Con’s, Anwendungsszenarien. Trotz instabiler Verfügbarkeit wächst die Nutzeranzahl von Twitter täglich.

Doch warum? Warum funktioniert Twitter? (Und diese Frage stellt wohl fast jeder, der die Funktionsweise das erste Mal erklärt bekommt.) Wer macht das? Wer hat die Zeit und die Motivation ohne erkennbaren Nutzen Informationshäppchen zu verstreuen?

Unser Erklärungsversuch…
…beginnt mit einem Sonnenuntergang. Irgendetwas fehlt, wenn man ein anregendes Erlebnis mit niemandem teilen kann. Warum? Ereignisse lösen beim Menschen schwache oder starke Emotionen wie Freude, Trauer, Wut, Mitleid oder Überraschung aus. Emotionen aktivieren uns. Wir werden aktiv, tun etwas. Das hat die Werbung längst erkannt: Eine gute Werbebotschaft führt zu einer emotionalen Aktivierung des Konsumenten, der dann (hoffentlich) das beworbene Produkt erwirbt. Ein wichtiger Mechanismus, um Emotionen zu verarbeiten, ist – neben dem Einkaufen 😉 – die Kommunikation. Was jeder ohnehin schon weiß – „Reden hilft“ – haben Forscher von der University of California noch einmal wissenschaftlich bestätigt. Spiegel Online fasst die Ergebnisse schön zusammen: „Über Traurigkeit und Ärger zu sprechen hilft, und das ganz gleich, ob mit einem Vertrauten, dem Therapeuten oder einfach nur mit einem netten Barkeeper.“

Viele der Twitter Einträge sind also nichts anderes als eine „Verarbeitung“ emotionaler Aktivierungen – der Nutzer schreibt also mehr für sich selbst als für andere.

Das Publikum ist nicht vollständig egal, es ist sicher relevant, dass wir dem Publikum zutrauen, die Dimensionen unseres Problems erfassen zu können. Es ist etwas anderes, wenn ich dem Barkeeper von einer verlorenen Ausschreibung erzähle, als meinem Kollegen, der mit mir die letzten 3 Wochen daran gearbeitet hat.

Zwischen Gespräch und E-Mail
Zum besseren Verständnis zeigt die Grafik verschieden starke emotionale Aktivierungen in ihrem Verlauf über die Zeit und den Bezug zum Start verschiedenartiger Kommunikationsformen: Nicht über jedes (Alltags-)erlebnis tauschen wir uns mit anderen Menschen aus. Die Einstiegsschwelle zum Gespräch ist deutlich geringer als zu schriftlicher Kommunikation überhaupt. Der (Motivations-) aufwand einen Blogpost zu schreiben ist dagegen recht hoch. Twitter liegt irgendwie dazwischen.

Das heißt

  1. Die Hürde zu einem Gespräch mit meinem Kollegen im gleichen Büro ist geringer, als zum Schreiben eines Microblog-Eintrages.
  2. Die Hürde zu einer E-Mails ist größer als zum Microblog, weil A) bei Microblogs kein Empfänger mehr ausgewählt werden muss – diese Entscheidung wird mir abgenommen – die Empfänger haben mich irgendwann ausgewählt und B) es aufwendiger ist, eine E-Mail zu schreiben – die einfache Bedienung und die Begrenzung der Zeichen verringern den „Schreibwiderstand“ bei Microblogs beträchtlich.
  3. Für ein großes Erlebnis ist das Zeitfenster, zu twittern deutlich größer als zu bloggen. Deshalb kann ein Blogpost durch Microblog-Tweets vor- und nachbereitet werden. Kennen wir doch die Twitter-Infos „Auf dem Weg zur Konferenz“, „Bin gerade in der Session“, denen dann vielleicht ein Post über ein interessantes Gespräch folgt. Und die Infos „Wrote a Post …“ sind letztendlich nichts anderes als „kommunikative Nachbereitung“ eines Blogposts, motiviert und aktiviert durch das Schreiben des Posts an sich.
  4. Unrelevantes wird bei Microblogs toleriert und überlesen, bei E-Mails sorgt es auf Dauer für Ärger, da Wichtiges in der Masse untergehen könnte. Der Kanal E-Mail transportiert (mehr oder weniger) wichtige Informationen. Zwei Tage ohne E-Mail in einem drängendem Projekt sind oft undenkbar; zwei Tage ohne Twitter sind nicht wirklich kritisch. Doch dies ist zugleich eine Stärke von Twitter: weil es unkritisch ist, können die Inhalte so banal sein – und damit so einzigartig. Stellen wir uns ein Unternehmen vor, welches zur Kommunikation nur noch Microblogs nutzt: Der Effekt wäre dahin, es entstünde kein „Zwitschern“ oder die Masse an simplen Kommentare würde als Spam empfunden.

Microblogs als Methode der Kommunikation, bringen ein verteiltes Team also wesentlich näher an ein Szenario des „sich Gegenübersitzens“, als es E-Mails bislang konnten. Andere Tools wie Instant Messaging, die einen ähnlich geringen Schreibwiderstand haben, sind nur für die flüchtige eins zu eins Kommunikation ausgelegt. Microblogs mit ihrem „many to many“ Ansatz haben eine deutlich höhere Reichweite.

Gespräche als „natürliche Feinde“ des Microblogs
Kommunikation führt zu einer Verarbeitung der Emotion und damit zu einer sinkenden Aktivierung. Daraus würde folgen, dass wir eher und mehr twittern, wenn niemand für ein Gespräch in Reichweite ist. Ein Microblog-Eintrag wird unwahrscheinlicher, wenn wir uns über eine Unterhaltung „entlasten“ können. Das gleiche gilt für Microblogs und E-Mail. Die persönliche Erfahrung bestätigt das wohl, Studien dazu kennen wir nicht. (Ob Robinson mit oder ohne Freitag aktiver Tagebuch geschrieben hat?)

In der Realität wird dieser Effekt etwas verwischt, da Feedback zu neuer Emotion und damit zu weiterer Kommunikation führen kann. Darin liegt ja dann auch die Quelle für „kollektive Intelligenz“. Die Aktivierung ist aber eine neue und erfolgt nicht mehr durch den Ursprungsgedanken, sondern durch die Reaktion unseres Gesprächspartners, den Kommentar oder die E-Mail-Antwort.

Schwätzer und Schweigsame: Individuelle Skalierung der Grafik
„hmm pasta mit selbstgemachter italienischer spezialsoße und rotwein :)“ oder „… sowas hab ich noch nie erlebt; beim boarding wurde festgestellt, dass ich nur eine reservierung und kein ticket habe danke #lufthansa“ sind Gedanken, die wir als mehr oder weniger banal bewerten. Wer einer Person oder einer Veranstaltung länger über Twitter folgt, bekommt ein sehr gutes und facettenreiches Bild, viel persönlicher und emotionaler als man es für möglich halten würde (siehe auch Punkt 10 in der Aufstellung von Luis Suarez).

Individualität wird dabei nicht nur durch Qualität, sondern auch durch die Quantität an Beiträgen ausgedrückt. So wie für jeden einzelnen die Schwelle, über etwas zu berichten unterschiedlich ist, so ist auch der Anlass für einen aktiven Tweet individuell (und wohl auch kulturell – auch dass wäre zu untersuchen) sehr unterschiedlich.

So wie wir im realen Leben gelernt haben, damit umzugehen, filtern wir auch bei Microblogs schon recht routiniert: Der Beitrag des eher „Stillen“ erreicht mehr Aufmerksamkeit als die Äußerung von dem, der stündlich Neues zu berichten weiß.

Was bedeutet dies für die Anwendung von Microblogs im Unternehmen?

Folgende Punkte erscheinen vor allem im Licht der obigen Thesen erwähnenswert:

  1. Das naheliegende Nutzenpotential wurde schon angesprochen: Microblogs können in verteilten Teams eine höhere „Awarness“ über parallel laufenden Entwicklungen und Entscheidungen schaffen. Für die agile Methode Scrum beginnen verteilte Projekte bereits damit, dass die Beteiligten nicht im selben Raum sitzen. Microblogging wird also sofort dann spannend, wenn nicht mehr regelmäßig (beiläufige) Informationen in Gesprächen ausgetauscht werden können.
  2. Microblogging kann ein wichtiges Instrument für Innovationen sein, indem sich rasend schnell neue Ideen im Unternehmen verteilen und weiterspinnen. Experten, Vordenker oder Evangelisten müssen beteiligt werden und sollten deshalb nicht immer unkompliziert durch Gespräche all ihre Gedanken mitteilen können. Der größte Fehler wäre, die vermeintlich innovativsten Köpfe einer Firma in ein gemeinsames Büro zu bringen – die bilateralen Gespräche wären sicher fruchtbar, der Austausch über Microblogs, E-Mail etc. mit allen anderen Mitarbeitern (potentiellen Innovatoren) würde aber leiden. Wie kann man das vermeiden? Vielleicht lebt der IBM Chef-Evangelist für Social Software Luis Suarez nicht aus Zufall auf einer einsamen kanarischen Insel? Oder regelt sich das Problem evt. auch von selbst, da ein Großteil dieser Innovatoren sowieso meistens unterwegs ist – und Taxis, Flughäfen, einsame Hotelzimmer oder das Schweigegebot während eines Konferenzvortrags beste Chancen für den nächsten Eintrag bei Twitter oder dem Corporate Microblog bieten?
  3. Ähnliche Bedenken gelten im Projektmanagement Szenario: Wenn das halbe Team in einem Raum sitzt und andere irgendwo einsam verstreut sind, bilden sich – durch die Gespräche im Büro – Informationssenken, die (informationstechnisch) Projektmitarbeiter erster und zweiter Klasse schaffen.
  4. Wird der Kanal Microblogging zu ernst genommen und mit wichtigen Informationen bestückt, dann verliert er seinen Charakter (und das ist ja eventuell einigen Fällen auch so gewünscht). Getrennte Microblog-Channels (für Projekte, Themen, Organisationsgruppen) könnten eine Lösung sein, doch auch Filter, Schlüsselworte etc. helfen, Übersicht zu schaffen. Denn, inwieweit wir bereit sind, in Zukunft bei einer emotionalen Aktivierung wieder erst entscheiden zu müssen, für welche Microblogging Gruppe diese Information am besten passen würde, muss sich noch zeigen.

Ein weites Feld für Praxis und Wissenschaft. Wir sind gespannt.

6 responses zu Eine Microblogging-Theorie oder warum Robinson Crusoe begeistert getwittert hätte.

  1. Microblogging in Unternehmen ist eben auch ein Enterprise 2.0-Thema. D.h. es reicht nicht aus, die Infrastruktur bereitzustellen und dann mal zu sehen, was passiert. Unbestritten, im „Bottom-Up-Modus“ wird auf diesem Weg einiges Sinnvolles entstehen. Aber das entlastet die Führungskräfte nicht, selbst aktiv gestaltend in diesen Prozess einzugreifen. Aus meiner Sicht ist es überhaupt nicht schädlich, wenn man z.B. in einem Projekt Empfehlungen / Vorgaben macht, welche Informationen in welcher Häufigkeit im Projekt-Microblog eingestellt werden sollen.

    „Ein Microblog-Eintrag wird unwahrscheinlicher, wenn wir uns über eine Unterhaltung „entlasten“ können.“ Genau das darf z.B. bei einem Projekt-Micoblog nicht passieren! In solchen nicht dokumentierten Unterhaltungen werden häufig Entscheidungen getroffen, die später überhaupt nicht mehr transparent sind. Hier kommt mir immer ein Zitat von Thomas Vander Wal in den Kopf:

    These existing gaps are around conversations not being captured (the walls of the halls have no memory (well today they do not)) and increasingly the ubiquitous communication channel in organizations, e-mail, is being worked around.

    Zum Schluss: vielleicht ist der Begriff Microblogging tatsächlich unpassend und der Begriff Microsharing beschreibt besser, was gemeint ist. Auch im Hinblick auf die Absichten von Robinson Crusoe 🙂

  2. Warum Twitter-Einträge mehr sind als eine „Verarbeitung“ emotionaler Aktivierungen

    Heute Morgen hatte ich die Zeit, eine Reihe von Posts zum digitalen Wahlkampf von Obama gelesen. Erstmal ein „Full Disclosure“: Natürlich fand auch ich es cool, als Tweet zu bekomen:

    Hi, Joachim Niemeier.
    Barack Obama (BarackObama) is now following your updates on Twitter.
    Check out Barack Obama’s profile here:
    http://twitter.com/BarackObama
    Best,
    Twitter

    KMTO schreibt im Blog „Marketing Welten„: „Nicht nur die Amerikaner, auch die globale, digitale Elite hat sich einen Präsidenten gewählt.“ Wenn dem so ist, dann gibt es noch weitere „Twitter-Patterns“ als die Verarbeitung einer emotionalen Aktivierung. Unbestritten hat diese im Wahlkampf auch stattgefunden. Viele Twitter-Anwendungen belegen dies.

    Aber durch http://twitter.com/BarackObama wurde zielgerichtet erstmal eine Plattform für eine spätere emotionale Aktivierung geschaffen. Dann wurden über diese Plattform gezielt Botschaften verschickt (ein geplanter Top-Down-Ansatz). Und spannend wird es nun sein zu sehen, wie der Rückkanal genutzt wird. Die Chance, die Meinungen seiner „Follower“ unabhängig von Machtinteressen direkt und unmittelbar mitzubekommen sind für Politiker sicher spannend, möglicherweise aber auch gleichzeitig beängstigend.

    Diese zusätzlichen Twitter-Patterns können auch in Unternehmen genutzt werden. Wo ist dort die Plattform, die eine Kommunikation mit dem Management mit einer niedrigen Einstiegsschwelle wie bei Twitter erlaubt? Wo erfahren dort die Mitarbeiter, welches die aktuellen Botschaften seiner Führung sind? Bislang waren Veranstaltungen, die in grösseren Zeiträumen stattfinden, eine solche Plattform. Geht man da nicht vor allem hin, weil man muss oder um auch mal wieder ein paar Kollegen aus anderen Stockwerken/Standorten zu treffen? Wenn man fortschriftlich ist, dann gibt es im Unternehmen vielleicht noch einen Executive Blog. Oder Kamingespräche mit ausgewählten Mitarbeitern. Wie weit wäre Obama alleine mit einem Obama-Blog oder Kamingesprächen mit ausgewählten Bürgern gekommen? Und was das Feedback angeht, da wird es in den Unternehmen richtig altertümlich. Da wird alle paar Jahre eine Mitarbeiterbefragung gemacht. Ist das heute noch sinnvoll? In der Vergangenheit war eine Mitarbeiterbefragung ein wichtiger Feedbackkanal, manchmal sogar der einzige. Aber wie bekommt man Feedback für spezifische Themen oder wenn nicht gerade eine Mitarbeiterbefragung ansteht? Wieviel mehr könnte man als Führungskraft erfahren, wenn diese ein Medium wie Twitter nutzt und eine solche Unternehmens-Community richtig angeht!

  3. @Joachim Niemeier: Die Anwendung von Twitter als Feedback Kanal für das Management – ich bin sofort dabei! Im Lichte unserer „Theorie“ wird dabei eine Frage sehr interssant: Wenn Twitter die Schwelle zur (schriftlichen) Kommunikation senkt, dann werden eine Reihe sehr emotionaler (in einigen Fällen zu emotionaler) Reaktionen dort öffentlich dokumentiert – damit muss man umgehen können.
    Den zweiten Aspekt haben Sie selbst angesprochen: Feedback heisst auch Erwartungen wecken („Ich habe schon drei Tweets geschrieben und es ist immer noch nichts passiert“…) Führungskräfte müssen dann bereit sein, über diesen Kanal nicht nur viel zu erfahren, sondern aktiv Rückmeldung zu geben – wer die Diskussion anregt, muss sie dann auch führen, sonst wird er unglaubwürdig.

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  2. Jahooda - Die Plattform für Projektmanagement und Prozessmanagement » Blog Archiv - 23. Februar 2009

    […] Hintergrundinformation ein spitzen Beitrag: Eine Microblogging-Theorie oder warum Robinson Crusoe begeistert getwittert hätte.  Diesen Post drucken Jahooda auf PageRank […]

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